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Lucie

Sie waren zu vielen und er war alleine. Er war doch nur ein verängstigter Junge.

Ich war sechzehn, und nur ein paar Jahre älter als er, aber ich war die einzige, die diesen Jungen verteidigen konnte, also habe ich es getan.  Er war ein Tutsi und 1994 in Ruanda war das schon Grund genug, um zu sterben. Die Soldaten hätten ihn abgeschlachtet. Ich bin Hutu und ich wusste, dass sie mich nicht töten würden.  Also habe ich mich dazwischen gestellt und nein, ich wurde nicht getötet. Sie haben mich vergewaltigt, als Gruppe.

Er war ein einzelner Junge, was konnte ich also tun? Als sie mit mir fertig waren, gingen sie zurück zu dem Jungen und ich stellte mich Ihnen wieder in den Weg. Ich glaube nicht, dass ich eine weitere Gruppenvergewaltigung überlebt hätte. Aber vielleicht waren sie müde geworden oder es war ihnen egal, diesen Jungen zu töten, also gingen sie weg. Ich nahm ihn mit und brachte ihn zurück zu seiner Mutter.

 

Diese Vergewaltigung zerstörte meine Jugend.  Aber er und seine Mutter sind meinetwegen noch am Leben, und das ist den ganzen Schmerz wert, den ich durchgemacht habe. Während des sexuellen Übergriffs wurde ich mit Zwillingen schwanger und infizierte mich mit HIV. Ich war sechzehn und noch nicht dazu bereit, Mutter zu sein und noch dazu krank. Ich erinnere mich an diese Zeit als die schwärzeste meines Lebens. Ich habe nie geheiratet, ich wollte keine anderen Männer mehr in meinem Leben, und in Rwanda ist es nicht leicht, eine alleinerziehende Mutter zu sein.

 

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Als meine Familie herausfand, dass ich an HIV erkrankt war, haben sie mich ausgegrenzt, ich war eine Schande für sie. Ich war wirklich einsam.  Ich musste den Tiefpunkt der Verzweiflung erreichen, um wieder Hoffnung zu schöpfen.

Ein Jahr, nachdem meine Familie mich verstoßen hatte, kam ich mit ActionAid in Kontakt, die eine Frauenkooperative gegründet hatte.

Sie haben mich in eine Gruppe von solidarischen Frauen aufgenommen, Menschen, die wie ich Gewalt erlebt und sie überlebt haben.  Sie haben mir beigebracht, wie man Pflanzen pflegt, wie man die Aussaat und die Ernte verfolgt. Sie sind zu Freunden geworden, zu Vertrauten. Sie verurteilen mich nicht für das, was mir passiert ist, und ich habe oft den Eindruck, dass sie die Einzigen sind, die wirklich verstehen, was ich durchgemacht habe.

Zu arbeiten macht mir keine Angst, ich baue Pilze, Kartoffeln und Mais an. Der größte Teil der Ernte wird verkauft, einen kleinen Teil behalte ich für mich und meine Kinder. Ich brauche niemanden mehr, ich bin unabhängig.  Ich bin glücklich mit dem, was ich habe, mit der Gemeinschaft, die es mir erlaubt, in Würde zu leben, mit den Freunden, die ich habe, mit der Krankenversicherung, die ich mir leisten kann. Heute bin ich eine bessere Frau als mit sechzehn Jahren, denn ich würde niemandem erlauben, das zu tun, was mir angetan wurde, ohne Gerechtigkeit zu fordern. Meine Kinder werden nicht das erleben, was ich durchgemacht habe.

Es ist meine Aufgabe, sie zu verteidigen.